Heute ausnahmensweise mal ein Beitrag ohne Fotos. Wie gesagt, dürfen wir Coworker keine Infos über die Bewohner in Text- oder Bildform im Internet veröffentlichen. Dieser Beitrag wird lang und ist vielleicht nicht für jeden interessant, nur für solche, die etwas über die Bewohner des Camphills wissen wollen.
Erstmal allgemein etwas zu den residents (also die behinderten Bewohner des Camphills):
Entgegen meiner Erwartungen (und den Angaben des Camphills bei meiner Bewerbung) sind die Behinderungen hier größtenteils weniger stark und vor allem geistig und nicht körperlich (wobei das natürlich stark zusammenhängt).
Bis jetzt weiß ich noch recht wenig über die Krankheitsbilder, da nur einige wie Down-Syndrom und Autismus leicht zu erkennen sind. Sehr viele residents sind hier sehr eigenständig was Körperpflege und ähnliches angeht. Es gibt hier einen, der sich wohl regelmäßig benässt, einigen anderen passiert dies gelegentlich. In meinem house hat kein resident ein Problem damit.
Als einer der ersten residents, die mir aufgefallen sind, habe ich E. in Erinnerung - aus zwei Gründen. 1. Er kam auf mich zu und hat mir als Begrüßung an den Haaren gezogen. 2. Ich muss jedes Mal wenn ich ihn sehe grinsen, weil er exakt aussieht wie einer meiner Freunde in Deutschland, nur halt... nunja, "behinderter". ( ;
Dann gibts D. Er sieht aus als wäre er einem Superhelden-Comic entlaufen, weil er unglaublich riesiger Kiefer- und Wangenknochen hat, die ein winzig kleines Gesicht umrahmen. Dadurch wirkt er sehr stark und gefährlich und da er außerdem die ganze Zeit hektisch herumläuft und springt und sich auf den Boden wirft, hatte ich anfangs ein bisschen Schiss vor ihm - aber nun kenne ich ihn.
Dann gibts noch J. Wenn man ihn sprechen hört, denkt man, dass er einer der Mitarbeiter ist. Er ist sehr zuvorkommend und auch recht intelligent und humorvoll. Er dauert einige Tage, bis man seine Macken kennenlernt.
Und K. - ein hyperaktiver Jugendlicher, der ebenfalls total normal aussieht (ich dachte erst, er wäre ein Coworker), aber das Gehirn eines vierjährigen zu haben scheint.
Die meisten residents hier sind voll in Ordnung.
Doch es gibt auch ein paar, die nicht so in Ordnung sind. Im house Juniper (eine Etage unter Orion) mussten die Coworker unterschreiben, dass sie sich der Agressivität eines residents bewusst sind. Dieser hat ab und zu einen Anfall und muss mit vier Männern zu Boden gedrückt werden. In Orion kriegen wir das nur mit, weil unser Hausleiter dann hinuntereilen muss und wir lautes Geschrei hören.
Es gibt hier schon ein gewisses Risiko, welchen man (ich) sich aber irgendwie gar nicht bewusst ist. Vor kurzem ist ein dicker Blumentopf einen Zentimeter an meinem Kopf vorbeigeflogen. Er war nicht für mich bestimmt, sondern für eine andere Coworkerin und kam von einer der etwas agressiveren Bewohnerinnen hier. Es gibt einfach viele, die ganz normal sind und dann mit einem Mal einen Anfall haben - es wäre schlecht, wenn man deswegen die ganze Zeit in Verteidigungshaltung durch das Schloss rennt.
Orpheas residents sind auch recht lustig. J. ist ein kleines Fräulein, welches immer lacht, wenn andere Leute um sie herum lachen (obwohl sie es gar nicht lustig findet und nicht versteht, worum es geht). Sie scheint manchmal etwas grantig zu sein, aber ist eigentlich recht süß. Und S. kenne ich eigentlich nur von seiner sehr hellen Stimme, die an meinen freien Tagen laut zu Abba-Musik aus seinem Zimmer schallt.
Die residents in meinem house sind: G., ein Autist, den ich an meinem Ankunftstag sehr charmant fand, weil er mich allen vorstellte und meinen Pullover toll fand. Mittlerweile weiß ich, dass er einfach nur ein mechanischer Charmeur ist und er geht mir manchmal etwas aus den Sack. Er erzählt den ganze Tag nur die Tagesordnung der nächsten Tage und spricht jeden Satz fünfmal und will einfach nie still sein. I. ist ein lustiges kleines Männchen, welches sich immer freut und gerne Musik hört. A. ist ein anderes kleines Männchen, welches mir in den ersten Tagen auf dem Computer eine Liste mit den Namen aller houses und workshops geschrieben und ausgedruckt (und mir den Worten "I'll hope you will find it useful" feierlich übergeben) hat. Er will ständig neue deutsche Wort lernen und ist ein netter Zeitgenosse. A. ist eine dicke Frau, die auf den ersten Blick sehr normal wirkt und bei der man erst später entdeckt, wie einfach sie gestrickt ist und wie leicht sie auf der Bahn gebracht werden kann. Sie ist eine der wenigen, mit der man shoppen gehen kann, ohne dass jemand sie komisch anschaut. M. ist ein junges Mädchen, welches sich nur mit Zeichesprache verständigt (muss ich bald lernen). Ich mag sie nicht so gerne wie die anderen, weiß nicht warum. Tagsüber kommt M. Ihn mag ich sehr, obwohl die anderen ihn glaube ich komisch finden. Ich habe allerdings den Verdacht, dass er sehr stark unter Drogen steht, weil er immer sehr weggetreten wirkt und in der Gegend rumstarrt. Wir haben einen kleinen Running Gag. Immer wenn ich ihn irgendwo sehr, winke ich ihm zu und er winkt zurück, was ihn extrem freut. ( ;
Und dann wäre das noch N. - mein persönlicher resident. Nach wie vor muss ich sagen, dass ich KEINEN einzigen resident im gesamten Camphill lieber betreuen würde als ihn. Er sieht abgesehen von einem etwas schlielenden Auge komplett normal aus, ist sehr sportlich und hygienisch (die meisten anderen residents sind dick und nicht wirklich hygienisch) und vor allem ist er ein richtig netter Kerl. Seine Lieblingsbeschäftigungen (und gleichzeitig die einzigen Sachen, über die er von sich aus spricht) sind: Autos und Züge anschauen, "Thomas die Lokomotive"-DVDs kaufen und gucken, mit äußerster Konzentration Steine werfen, Stöcker werfen, Brotstücke auf Enten werfen, alles andere Erdenkbare irgendwohin werfen, Kinder-Dartpfeile werfen, schnell spazierengehen, den Kopf abgetrocknet bekommen, "Shreddie"-Cornflakes mit Joghurt und Milch vorm Ins-Bett-Gehen essen, aus dem Fenster schauen, bis 5, 8 oder 10 zählen, an langen Haaren schnuppern.
Er redet recht leise und abgehackt und es ist nicht leicht, ihn zu verstehen. Aber er gibt sich Mühe. Er ist etwas in M. in unserem house (s.o.) verknallt und da er diese gerne umarmt und auf den Kopf küssen würde und dies auch versucht. Generell steht er irgendwie total auf Haare, vor allem auf Frauen-Haare. Er geht gerne zu Frauen und schnuppert an ihren Haaren und küsst sie. Auch wenn dies nicht sexuell gemeint ist, da er diesbezüglich und auch insgesamt geistig auf dem Stand eines Kindes ist, hat es ihn in der Vergangenheit ab und zu in der Öffentlichkeit in brenzlige Situationen gebracht. Deswegen ist es mein Job, ihn vor sich selbst zu "beschützen", so mein Hausleiter. Fremde Leute, die dieses Hobby von N. nicht kennen, könnten es einfach sehr leicht missverstehen. Außerdem muss ich ihn von M. vernhalten, da diese nicht sprechen und sich nicht wehren kann und sie die Nähe nicht tolerieren kann.
Deswegen muss man ihn im Grund rund um die Uhr im Auge haben. Andere müssen sich gegen Faustschläge wehren, die residents baden und "Bremsspuren" und Sabberflecker wegmachen - ich muss meinen resident einfach nur im Auge haben.
Mir wurde prophezeit, dass er sehr komplizert sein kann, aber davon merke ich noch nicht soviel. Er hört sehr gut auf mich, obwohl mein Hausleiter sich cool fühlt, wenn er behauptet, dass N. zur Zeit mit mir spielt und mich austestet (Das Gespräch geht dann immer ungefähr so: "Ja, mach Dir keine Sorgen, am Anfang testet er Deine Grenzen aus und hört nicht auf Dich!" - "Hm, ich habe das Gefühl, dass er sehr gut auf mich hört und fast immer ohne lange Widerrede handelt." - "Jaja, er spielt halt ein bisschen mit Dir und schaut, was er mit Dir machen kann." - "Nein, das Gefühl habe ich nicht, er akzeptiert-..." - "...-jaja, das kennt hier jeder, das wird besser!" - Dieser Typ ist einfach... tz...^^).
Manchmal wird N. auf einmal sehr aufgeregt und aggro - "upset" trifft es am Besten. Dann fängt er lustig an zu grummeln und macht hektische Bewegungen (wird aber nie gewalttätig oder sowas, nur grantig). Dann flucht er vor sich hin und beschimpft Leute grundlos als "chicken" (=Feigling). Das bringt mich immer sehr zum Grinsen. Manchmal muss ich ihm auch Recht geben, wenn er z.B. der Labertasche G. sagt, dass er aufhören soll so einen Schwachsinn zu erzählen. ( ;
Mein Hausleiter findet das unakzeptabel und ich muss einschreiten. Dann geht N. fluchend und grummelnd für zehn Minuten in sein Zimmer und ist anschließend wieder der netteste Typ dens gibt.
Irgendwie hab ich das Gefühl, dass N. zu meinem Freund geworden ist. Natürlich nicht zu so einem richtigen Freund, aber irgendwie sind wir ein bisschen Kumpels und grinsen uns zu, wenn irgendwas lustiges passiert und so.
Es sind die Kleinigkeiten, die meine Arbeit hier rechtfertigen. Er kann alles alleine machen, aber macht alles ein bisschen falsch. Er macht seine Uhr IMMER zu fest, und ich muss sie lockern. Wenn ich nicht kommen und ihn erinnern würde, würde er zwei Stunden lang duschen und die gesamte Duschgelflasche leeren. Oder die gesamte Zahnpasta auf seine Zahnbürste schmieren. Oder am Esstisch das Essen "vergessen" - man muss ihn daran erinnern, sonst braucht er für die recht großen Mengen, die er isst, Stunden. Aber diese Arbeit ist halt ok und man wird schnell routiniert. Andere haben einen resident, der immer böse guckt, ausrastet und nie lächelt, sein Bett vollscheißt und einen angreift... mein N. ist fröhlicher, aktiver und intelligenter als die meisten anderen und man kann sich den ganzen Tag mit ihm (und über ihn) amüsieren!